Frag beim Steilhang nie: Wie cool ist der?

von Redaktion ‎ 16/03/2021
Winter in Österreich
Frag beim Steilhang nie: Wie cool ist der?

...SONDERN: ÜBERLEB' ICH DAS? Eine intelligente Warnung der Freeriderin Lorraine Huber während des  praktischen Teils der alljährlichen "Snow & Safety -Conference" in Lech. Wir, eine Gruppe von Teilnehmern, standen am Kriegerhorn und die Verlockung war riesig, in den gesperrten Hang einzufahren. Da kam die Warnung gerade recht.  Wir ließen es – und der Pulver auf der Piste staubte auch genug. Wobei das alljährlich leider im Dezember 2020 eine  Corona-bedingte Unterbrechung erfährt. 2019 war Snow & Safety, die siamesischen Zwillinge des Off-Piste-Vergnügens, noch Anlass für den verantwortungsvollen Saisonstart abseits der Piste und im Konferenzraum. Mit  Lorraine das Weiß zu durchpflügen garantiert ohnehin den Spaß. Einziger Makel: Wenn sie den Hang runterkurvt, vermutet man auf makellosen Pulverschnee zu treffen, bis man spürt: Ächz, da sind Kraft und Hochentlastung gefragt. 

DIE ABENDLICHEN VORTRÄGE treten zwar im Vergleich zum Snow-Erlebnis in den Hintergrund, doch es gibt immer wieder Neues in Sachen Safety zu erfahren. Etwa bei Jan-Thomas Fischer, junger Präsident der noch jüngeren Gesellschaft für Schnee und Lawinen, beruflich Lawinendynamiker. Im Science-Busters-Stil brachte er folgende Erkenntnisse näher. 
1.) Schnee ist ein Hochtemperaturkörper, weil er extrem nah am Schmelzpunkt ist. 
2.) Heute spricht man beim Schnee weniger von nass/trocken als von warm/kalt. 
3.) Airbags sind keine Schwimmwesten. Sie reduzieren die Dichte des Menschen von 1000 kg/m3 auf 500 kg/m3. Doch Schnee hat eine Dichte von 100 (extrem trockener Pulver) bis 300 kg/m3. Kommt man unter eine Lawine, liegt man blöderweise trotzdem unter einer halben Tonne. Die Airbags funktionieren aber aufgrund der inversen Segregation.  Auch Müslieffekt genannt. Was es im Übergang zu Alexander Prokop, Boku Wien, noch zu lernen gab: Schnee kann nie wärmer als 0°C sein. Direkt am Boden hat er aber auch nie weniger als 0°C. Temperaturen waren Prokops Thema, der die Lawinengefahr von schneereichen zu schneearmen Wintern verglich. Kurzfassung: Schneearme sind gefährlicher, weil hier das Altschneeproblem stärker wirksam wird. Dieses in den Griff zu bekommen, bedarf bester 
Ortskenntnisse – auch über den Niederschlagsverlauf. Die Erklärung zum Altschneeproblem liegt darin: Der Mensch beeinflusst die Schneedecke max. einen Meter, in der Regel aber nicht mehr als 20 bis 70 cm. „Bei Neuschnee sind wir das Problem, nicht die Schneedecke“, sagt Prokop. Sprich das leichtsinnige Einfahren bei Lawinenwarnstufe 3, weil  Sonne und unverspurte Hänge locken. Da passieren die meisten Unfälle, zu 81 % sind es Männer, meist zwischen 20 und 40 Jahre alt. 

WAS WÄRE WENN Schnee rot wäre? Kann der weiße Rausch zur Sucht geraten? Gibt es das archetypische  Lawinenopfer? Und worin liegt die Faszination des Wassers, wenn es kältebedingt flockig vom Himmel fällt? Mit Psychologen und einem Suchtforscher riskieren wir einen vorsichtigen Blick unter die Schneedecke. „Schnee ist weiß, rein, eine Projektionsfläche. Auch für unsere Träume, Ideen“, sagt Jan Mersch. Recht hat er, der psychologisch diplomierte Wander- und Tourenguide aus Deutschland. 

WIRD "POWDERALRM" AUSGERUFEN lässt das Hirn dem Herz den Vortritt. Die Werbung leistet dabei einen nicht unwesentlichen Beitrag, wie Fachleute gerne beklagen. „Die Lawine weiß nicht, dass du Experte bist“ lautet eine gängige Warnung. Denn die meisten Opfer sind nicht unbedingt bei besonders gefährlichen Schneelagen zu beklagen, sondern wenn nach Schlechtwettertagen die Sonne zu Leichtsinn verführt. Ein weiterer Beleg: Powdern ist pure  Emotion. Oder ist der Tiefschneerausch gar Sucht? „Rausch ist gesuchter Exzess, möglichst ekstatisch. Und das ist beim Skifahren, entsprechendes Können vorausgesetzt, durchaus zu erreichen. Nicht nur im Tiefschnee“, analysiert Österreich prominentester Gerichtspsychiater und Suchtforscher Reinhard Haller das Phänomen. Für den Deutschen Alpenverein betreibt Mersch oft die nachfolgende Analyse. Was treibt Menschen dazu, für in der Natur erhoffte  Glücksgefühle ihr Leben aufs Spiel zu setzen? „Lawinen sind ein schwieriges Feld, weil wir sonst gewohnt sind aus Fehlern zu lernen. Doch in einer Lawinensituation wissen wir nie, ob wir die richtige Entscheidung getroffen haben – oder nur Glück hatten.“ Das wahre Glücksgefühl basiert also oft auf Glück. Wäre der Schnee aggressiv rot, wäre die  Risikobereitschaft geringer, ist Mersch überzeugt. Süchtig nach Schnee könne man nur sprichwörtlich oder in dessen unfreiwilligem Wirken als Synonym für Kokain werden, meint Haller:

RAUSCH IST STARKER GENUSS, eine Erweiterung des Bewusstseins, kurzzeitiges verrückt sein und hat manchmal etwas Religiöses. Sucht ist zwanghaft und kein Genuss mehr.“ Es gebe keinen ungefährlichen Rausch. Aber das Bewegen in der Natur zähle zu den letzten Bastionen uneingeschränkter Eigenverantwortung und Freiheit, bejaht Haller den weißen Rausch. Auch die Freiheit des Leichtsinns. In einer Studie wurden 124 Bergunglücksfälle mit 140 Toten untersucht. 80 Prozent der Opferm haben, nimmt man die Lawinenwarnungen als Basis, ein hohes Risiko genommen. 

DIE KUNST SEI, Erfahrungen wie „Der Hang hat gehalten“ auch mal als Glück abzuspeichern, sofern das Gefühl  einem das sagt. Die Distanz zum eigenen Tun sei die beste Lebensversicherung. Zusätzlich gibt Mersch noch das weite Feld gruppendynamischer Aspekte zu bedenken. In eine ähnliche Kerbe schlug Dr. Manfred Ruoß,  Psychologischer Psychotherapeut aus Kaufbeuren. Es gebe Unmengen von Infos zur Beurteilung der Lawinengefahr. Mit sich ändernden Bewertungen. Wurden Schneemäuler früher positiv beurteilt, gelten sie nun als Gefahrenzeichen. Natürlich holen viele Menschen trotz allem zu wenig Informationen ein oder können sie nicht auswerten: „Aber vielleicht lassen sich trotz allem auch wirklich keine Entscheidungen treffen. Vieles bleibt Zufall“, weiß Ruoß. Es sei ein Grundbedürfnis des Menschen sich besser fühlen zu wollen. Erfolge erhöhen das Selbstwertgefühl. Entscheidungen werden eben nicht rational getroffen, sondern in spielerischer Lust. Der Tiefschnee als emotionaler Verführer, wo der Zufall das Glück töten kann.